Wie wird sie aussehen, die Unterhaltungswelt von morgen? Forscher, Futurologen und Riesenkonzerne arbeiten mit Hochdruck daran, Realität und Virtualität miteinander zu verschmelzen.

Katzen haben einer uralten Fama zufolge neun Leben. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die beliebten Stubentiger sich meisterlich aus brenzligen Situationen befreien können. Statt einen fatalen Sturz mit dem Tod zu bezahlen, schaffen es die meisten Katzen, rechtzeitig den Notausgang zu wählen und alsbald fröhlich schnurrend wieder ihrem geruhsamen Tagesablauf zu fröhnen. So sehr der Homo sapiens sich bislang auch abgemüht hat, es wollte einfach nicht gelingen, der eigenen Sterblichkeit zu trotzen. Und da es auch mit der Fähigkeit zur Flucht aus misslichen Lagen mit potenziell tödlichem Ausgang nicht besonders weit her ist, bleibt es dabei: Der Mensch hat genau ein Leben. 

Dieser narzisstischen Kränkung wollen viele sich indes nicht kampflos ergeben. Unter Tech-Milliardären reift daher schon lange der Wunsch, der Endlichkeit des Lebens mit einer Kaskade technischer ­Lösungen ein Schnippchen zu schlagen. Einerseits auf herkömmlichem Wege durch massiven Ausbau medizinischer Forschung nach lebensverlängernden Maßnahmen, andererseits durch eine neue Form der Existenz, die sich als Transhumanismus bezeichnen lässt. Gemeint ist damit die Fusion aus Mensch und Rechenmaschine, die im Idealfall die Zeit anhalten oder überwinden kann, ja sogar die Grenzen der Physik zu sprengen vermag. Vieles davon hört sich noch reichlich unrealistisch an. Bedenkt man aber, dass hinter diesem Konzept bekannte Vordenker wie Ray Kurzweil stehen, der in den 1980er-Jahren mit seiner Firma Kurzweil Music Systems die Entwicklung des Synthesizers vorangebracht hat und längst in Googles Diensten als Berater agiert, lässt sich die Tragweite des Entwurfs schon besser einschätzen.

Google gehört schließlich zu den Unternehmen, die schon mehrfach Themen in die Öffentlichkeit gebracht haben, die davor niemandes Interesse geweckt hätten. Als Beispiel sei nur die Idee des selbststeuernden Autos genannt, die sukzessive von vielen Herstellern aufgegriffen wurde und seither als fixes Konstrukt durch aktuelle Stadt- und Mobilitätsplanungen geistert. Google ist aber auch finanziell bestens aufgestellt und hat es geschafft, mit verschiedenen Anwendungen für einen großen Teil der Menschheit unverzichtbar zu werden. Verfolgen Unternehmen dieses Schlages ein Konzept mit gehörigem Eifer, lässt sich dem durchaus eine gewisse gesellschaftliche und politische Relevanz entnehmen. Ganz zu schweigen davon, dass es ganze Märkte durcheinanderwirbeln und den Profiteuren hohe Gewinne bescheren kann. 

Leben in mehreren Welten

Bislang ist es noch niemandem gelungen, dem Beispiel von Schrödingers Katze zu folgen, einem quantenmechanischen Experiment, welches die Gleichzeitigkeit zweier Aggregatzustände als mögliches Szenario annimmt. Nach dieser Hypothese könnte ein Lebewesen tatsächlich mehrere Leben führen, und zwar zeitgleich. Auch die Beam-Technik aus der Science Fiction-Serie Star Trek geht gedanklich in diese Richtung. Nicht ganz so ambitioniert, wenn auch sehr einfallsreich, zeigt sich bislang die IT-Branche, die mehr und mehr beginnt, alle anderen Wirtschaftszweige in sich aufzusaugen. Einfach formuliert: Alles soll zu einem vernetzten Computer und somit einem Datensatz werden. Dazu muss erst einmal alles digitalisiert werden, eine Vorstellung, die aus dem politischen und wirtschaftlichen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken ist. Meist bleibt es dabei auf wenig konkretem Niveau. Hilfreich erscheint, vor diesem Hintergrund zu verstehen, was Digitalisierung eigentlich bedeutet, nämlich die abstrakte Nachbildung der realen Welt in Form von Zahlenketten, die in Summe Datensätze ergeben. Mit diesen Daten lässt sich so ziemlich alles berechnen und viel Geld verdienen, was die ­naive Vorstellung speist, Daten seien so etwas wie das Erdöl des 21. Jahrhunderts. Tatsächlich repräsentieren Daten nur deshalb einen monetären Wert, weil findige Unternehmen einen Weg gefunden haben, diese nach marktwirtschaftlichen Kriterien zu monetarisieren. Gleichwohl könnten Datensammlungen auch dem Wohle aller dienen, dazu bedürfte es aber gesetzlicher Rahmenbedingungen, die erst allmählich erstellt werden.

Derweilen läuft die technische Entwicklung auf Hochtouren weiter. In einer ironischen Wendung der Geschichte hat just jener Wirtschaftszweig von der Corona-Pandemie am meisten profitiert, der ohnehin schon zu den profitabelsten zählt: Big Tech. Während viele sich darüber freuen, endlich wieder im realen Leben angekommen zu sein, arbeiten andere schon emsig daran, das Verweilen im virtuellen Raum noch auszubauen. Und zwar weit über virtuelle Showrooms und Videokonferenzen hinaus, hin zu einem Paralleluniversum, in welches und aus welchem man mühelos wechseln kann. Nichts anderes als eine Zweitexistenz im virtuellen Raum ist damit gemeint. Die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass die Akzeptanz solcher Systeme maßgeblich von Peers, also Vorreitern, bestimmt wird, die über gesellschaftliches Ansehen verfügen.

The Winner takes it all

In der Entertainmentbranche könnten Abba für einen derartigen Dammbruch gesorgt haben. Und zwar, weil die Band allen bisherigen Beteuerungen zum Trotz sich nun doch zu einem Comeback durchgerungen hat, welches live mit virtuellen Abbildern der Band aus der Hochblüte ihres Schaffens, also den 1970er- Jahren, bestritten werden soll. Kurz: Auf der Bühne werden nicht etwa Abba selbst zu hören und sehen sein, sondern digitale Repräsentationen ihrer selbst, die den Vorbildern weitgehend entsprechen sollen. Dazu sind in zeitraubender Arbeit Aufnahmen der echten Band mittels Motion Capturings bis ins kleinste Detail erfasst worden. Mit dieser Datensammlung können die virtuellen Ebenbilder der Band gesteuert werden, sodass die Darbietung einer Reise in die Geschichte gleichkommt. Abba sind damit in gewissem Sinne unsterblich geworden. Die Produzenten haben darüber hinaus nun einen Weg, Live-Konzerte auf den sprichwörtlichen Knopfdruck hin und mit geringem Aufwand stattfinden zu lassen. 

Neu ist das Konzept nicht. Vor allem in Asien sind virtuelle Künstler längst im Mainstream angekommen. Hatsune Miku ist ein reines Kunstwesen aus Bits und Bytes, das aussieht wie eine Manga-Figur und als Projektion auf die Bühne kommt. Weltweit sorgt Hatsune Miku für ausverkaufte Hallen und klingelnde Kassen, nicht nur bei den Veranstaltern, sondern auch bei der boomenden Merchandise-Industrie. Die Stimmen der virtuellen Künstler stammen dabei von Yamahas Software Vocaloid, mit deren Hilfe auch schon die 1989 verstorbene japanische Sängerin Hibari Misora virtuell auferstanden ist, um posthum das neue Stück „Arekara“ zu interpretieren. Hatsune Miku hat durch Vocaloid längst holografische Mitstreiter gefunden. Kaito und Meiko decken unterschiedliche Stimmlagen ab und stellen so die stimmliche Ergänzung zu Mikus Gesang dar. Außerdem sehen sie natürlich immer perfekt aus und bleiben auf ewig jugendlich. Nur das Publikum altert. Aber kein Problem, denn stets kommen neue Bevölkerungsschichten nach.

In Europa tut man sich mit solchen Entwicklungen noch schwer, auch wenn sie durch globale Vernetzung natürlich längst in die Lebenswelt vornehmlich Jugendlicher Einzug gehalten haben. Mischformen aus realen und virtuellen Elementen finden sich auch bei den E-Sports sowie in zahlreichen Computergames, etwa dem beliebten Fortnite. Früher oder später werden sie also in den Alltag einziehen und vermutlich einige gesellschaftliche Fragen aufwerfen, auf die es bislang keine Antwort gibt.

Aus der Kunst in den Mainstream

Schon länger sorgt die virtuelle Welt für regelrechte Trendwellen, die aus dem Nichts auftauchen und die Claims neu abstecken. In der Kunstszene kursiert das magische Kürzel NFT, das für Non-Fungible Token steht und einen Datensatz beschreibt, der ein virtuelles Objekt eindeutig kennzeichnet. Damit kann auch computergenerierte Kunst mit einem Echtheitszeugnis ausgestattet und somit vermarktet werden. Kopien des Kunstwerks sind zwar möglich, verfügen aber nicht über den entsprechenden Nachweis, und sind daher im Vergleich zum NFT-geschützten Original weitgehend wertlos, da sie ja beliebig vervielfältigt werden können. 

Dieses Prinzip hat mittlerweile die Modewelt erfasst und wird dort bestimmt nicht ihr Ende finden. Virtuelle Kleidungsstücke kennt man aus Computerspielen, wo sie kostenpflichtig getauscht werden können. Nun aber springen auch etablierte Modehäuser auf den Trend auf und bieten ihre Mode auf rein digitaler Ebene an. Im echten Leben kann man sie somit nicht tragen, aber dafür den Avatar damit ausstatten, oder sich die virtuelle Mode auf ein Digitalfoto montieren lassen und dieses dann auf den üblichen Plattformen posten. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos, zumal viele der Kreationen derart gewagt sind, dass sie im realen Leben ohnehin kaum jemand tragen würde. Die virtuelle Welt als erweiterter Raum, in dem sich alles ausprobieren lässt. 

Ganz neu ist indes auch das nicht. Ältere Semester erinnern sich an Second Life von Linden Labs, das schon 2003 an den Onlinestart ging mit dem Versprechen, ein virtuelles Leben nach eigenen Wünschen führen zu können. Auch gab es in Second Life bereits eine virtuelle Währung, den Linden-Dollar, der in echte Währung getauscht werden konnte. Erstaunlicherweise entsprach die Welt auf Second Life mehr oder weniger einem Abbild der realen Welt, obwohl im Grunde möglich gewesen wäre, neue Formen des Zusammenlebens auszuprobieren. Stattdessen gab es im Grunde eine idealisierte heile Welt zu erleben, die rasch an Faszination verloren hat. Second Life existiert nach wie vor, auch wenn der Hype ähnlich wie bei Myspace längst verschwunden ist.

Wovon träumen Androiden?

In der Romanvorlage zu dem düsteren Science Fiction-Klassiker Bladerunner wird die Frage gestellt, ob Androiden von elektrischen Schafen träumen. Und somit zur Diskussion gestellt, was den Menschen, angesichts immer ausgefeilterer technischer Lösungen, eigentlich zum Menschen macht. Dies zu beurteilen, wird Aufgabe zeitgenössischer Philosophen und Schriftsteller sein. Von existenziellen Betrachtungen abgesehen, lässt sich kons­tatieren, dass die fröhlich skizzierte virtuelle Existenz natürlich ihre Schattenseiten hat. Und eine davon kommt angesichts klimapolitischer Erwägungen zur Unzeit: Es ist der Stromverbrauch. Schon heute genehmigen sich schnelle Übertragungsleitungen und Rechenzentren, von der Öffentlichkeit meist unbemerkt, ­gigantische Mengen an Strom. Anwendungen wie HD-Streaming, Videokonferenzen, Cloudcomputing, Blockchain oder Cryptomining treiben den Stromverbrauch weiter an. 

Soll es tatsächlich zu einem massiven Ausbau virtueller Lebenswelten kommen, wird auch für den entsprechenden Strombedarf Sorge getragen werden müssen. Eine Perspektive, die in der Gesamtbetrachtung fast immer zu kurz kommt, aber von großer Bedeutung ist. Speicher und Rechenleistung sind längst nicht mehr die limitierenden Faktoren, doch wenn die Energiewirtschaft nachhaltig umgebaut werden soll, wird man nicht umhin kommen, auf unnötigen Energieverbrauch zu verzichten. Ein weiteres kritisches Merkmal wird sein, wie die neuen Paralleluniversen aufgebaut sein sollen. Aus gesellschaftlicher Sicht wäre fatal, diese Entscheidung marktbestimmenden Unternehmen zu überlassen. Noch aber besteht Gelegenheit, die neuen Welten mitzugestalten. Vor allem für Veranstalter eine Möglichkeit, tragfähige Modelle für die Zukunft zu entwickeln, die anders als bisher allen zum Vorteil gereichen. Ganz verschwinden wird die Bühnendarbietung nach altbekanntem Muster nicht. Die Resonanz auf Abbas Vorstoß wird darüber Aufschluss geben, wie weit tatsächlich bereits gesellschaftliche Akzeptanz vorhanden ist.

Foto: Baillie Walsh

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