Ein  neuer Begriff geht um in der Veranstalterwelt: die Hybridveranstaltung. Aus der Not geboren, könnte sie maßgeblich beeinflussen, wie Zusammenkünfte größeren Ausmaßes in Zukunft aussehen werden.

Langsam, aber sicher arbeitet sich der Fachbegriff des Hybriden in die Alltagssprache vor. Wie viele andere Fachbgeriffe auch, ist er dem Griechischen entlehnt und bezeichnet eine Mischform aus zwei oder mehreren Elementen. Ob das Zusammenwirken gedeihlich ist, beschreibt er allerdings nicht. Ein bisschen schwingt im Wortstamm auch die Hybris mit, die Überheblichkeit und der Übermut. So als wolle damit zum Ausdruck gebracht werden, man sei sich nicht ganz sicher, auf welches Pferd gesetzt werden solle, und  baue daher sicherheitshalber eine Stütze ein, um das Gesamtgefüge zu stabilisieren.

Etwas Wagemut und Risikobereitschaft gehören ebenfalls dazu. Diese etymologische Annäherung entspricht ziemlich genau den Umständen bei vielen Veranstaltern. Die Coronapandemie hat ordentlich Sand in das sonst so geschmeidig laufende Getriebe befördert, und mit einem Mal sind Terminplanung und Besuchermanagement in den Vordergrund gerückt, ja, drohen gar, die eigentliche Veranstaltung eo ipso zu überschatten. Um nicht untätig herumsitzen und Maulaffen feilbieten zu müssen, kam flugs die Idee auf, einen uralten Trend zu reanimieren. 

Zurück in die Zukunft

Schon um die Jahrtausendwende nämlich erschallte ein deutlich vernehmbarer Abgesang auf das Messewesen. Getragen wurde dieser von der Beobachtung, dass das Internet längst zum Massenmedium geworden war und den virtuellen Austausch zwischen einer beliebig großen Teilnehmerschar ermöglichte. Längst vorbei schien die Zeit, in der man große Entfernungen überwinden musste, um die neuesten Errungenschaften aus Industrie und Dienstleistung begutachten zu können. Dann aber kam alles anders. Rasch stellte sich nämlich heraus, wie weit Theorie und Praxis auseinanderklaffen. Was effizient ist, muss noch lange nicht menschentauglich sein. Die Qualität der persönlichen Zusammenkunft ist es seither, die als Asset traditioneller Veranstaltungen gilt. Über die Neuigkeiten der Branche kann man sich jederzeit informieren. Diese auszutauschen, zu erörtern und evaluieren bedarf aber letzten Endes doch eines Face-to-Face-Meetings, wenn es Hand und Fuß haben soll. Und so ist die virtuelle Veranstaltung zu Beginn der Nullerjahre sukzessive zu Grabe getragen worden, sieht man von einigen Ausnahmen wie Computerspielmessen ab. Doch Totgesagte leben länger und können, wie wir gerade erleben, im Nu wieder auftauchen und das Ruder herumreißen.

© namm-org

Veredelung oder Flickwerk

Bis Ende 2019 schien die Veranstalterwelt noch in Ordnung. Allenfalls international ausgerichtete Unternehmen registrierten den Ausbruch einer bis dato unbekannten Krankheit in China, die meisten aber hatten die Planung für 2020 längst abgeschlossen und sich mental bereits in das folgende Jahr 2021 begeben. Die restliche Geschichte darf als bekannt vorausgesetzt werden. Innerhalb kürzester Zeit  wurden alle Pläne durcheinandergewirbelt und Veranstaltungen abgesagt. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert. Auch für das kommendes Jahr sind wichtige Events wie die CES, die NAMM-Show oder die Baselworld  bereits gestrichen, und weitere werden folgen. Eine Entscheidung, die der Erkenntnis folgt, dass die Coronapandemie so schnell nicht weichen wird und stattdessen erst einmal in aller Gemütsruhe den Globus umrundet. Guter Rat ist also teuer, und das ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Ein komplexes Netzwerk wie die globale Messebranche stillzulegen bedeutet nämlich enorme wirtschaftliche Verluste. Und zwar nicht nur bei Veranstaltern und Ausstellern, sondern auch bei Messebau, Veranstaltungstechnik, Tourismus und Gastgewerbe – um nur die Offensichtlichen zu nennen. Das Rennen um die Zeit ist also eröffnet. Nun ist es aber nicht damit getan, vorhandene Konzepte, und seien sie noch so bewährt, einfach in die digitale Welt zu transferieren. Diese Erkenntnis manifestiert sich schnell anhand der zahlreichen Pannen und Fehler, die während der letzten Monate im Zuge der hastig umgesetzten Virtualisierung von Konferenzen und Tagungen passierten. Ganz zu schweigen von semiprofessionellen Home Office-, Home Schooling- und Videokonferenz-Lösungen. Oftmals scheint das Prinzip Versuch und Irrtum Regie geführt zu haben, doch was an unfreiwillig komischen Einlagen bislang stillschweigend toleriert wurde, sorgt mittlerweile für Stirnrunzeln. Kurz gesagt: der Aufwand ist nicht unbeträchtlich und muss weise abgewogen werden.

Doppelt gemoppelt

Derzeit gestaltet sich die Problematik für viele Veranstalter so: der Prophet, also der Besucher, kann nicht zum Berg, also zur Veranstaltung kommen. Ergo muss der Berg, also die Veranstaltung, zum Propheten, also dem Besucher kommen. Was sich einfach und nachvollziehbar anhört, birgt Tücken. Im schlimmsten Fall bedeutet eine Hybridveranstaltung nämlich doppelten Aufwand, und es stellt sich die berechtigte Frage, ob es nicht sinnvoller ist, die gesamte Veranstaltung komplett zu virtualisieren.

Diesen Weg haben etwa die Veranstalter des Rockfestivals im norddeutschen Wacken beschritten und die Deutsche Telekom damit beauftragt, eine Gesamtlösung zu ersinnen, die trotz virtueller Umsetzung wenigstens ein bisschen Livestimmung in die Wohnzimmer bringt. Augenscheinlich ist das recht gut geglückt, wobei im Zentrum der Umsetzung sogenanntes Motion Tracking stand. Dabei werden die Abläufe auf der Bühne in nahezu Echtzeit erfasst und auf virtuelle Charaktere übertragen. Auf dieser virtuellen Ebene können dann die Zuseher eingebunden werden, wobei sich die gesamte Bandbreite an Effekten aus der Virtual Reality-Welt andient. Bei aller Begeisterung über technische Möglichkeiten sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, auf Ausfallssicherheit zu achten. Nichts ist katastrophaler, als wenn das gesamte System unter der Last zusammenbricht oder auch nur ins Stocken gerät. Eine Binsenweisheit lautet daher: lieber etwas überdimensionieren und einen Worst Case einplanen.

Risiko oder Chance

Von technischen Unzulänglichkeiten abgesehen, birgt die rein virtuelle Umsetzung einer Veranstaltung die Gefahr, das eigentliche Live-Event zu kannibalisieren. Das hieße für manche Messe oder Veranstaltung, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Nicht zuletzt herrschte vor 20 Jahren die Befürchtung, das Internet könne Messen in ihrer bisherigen Form überflüssig machen. Eine Prognose, die sich damals zwar als falsch herausgestellt hat, angesichts heutiger Lösungen allerdings um einiges wahrscheinlicher geworden ist. Längst kursieren wieder Befürchtungen, die großen Messegelände könnten gemeinsam mit Tankstellen und Einkaufszentren zu Ruinen des 21. Jahrhunderts werden.

Sehr viel Handlungsspielraum besteht allerdings nicht. Jede abgesagte Messe und jedes abgesagte Event könnten einen Gewöhnungseffekt bei Publikum und Ausstellern zur Folge haben. Angesichts solcher Aussichten scheint es ein geringeres Übel zu sein, den Sprung in die virtuelle Welt zu wagen, auch wenn diese für viele Unternehmen völliges Neuland ist. Hybride Veranstaltungen versprechen zwar auf den ersten Blick, das Beste beider Welten, der analogen wie der digitalen, einzufangen. Im schlimmsten Fall aber leidet die ursprüngliche Liveveranstaltung, und die virtuelle Umsetzung misslingt. Um dieses Dilemma zu lösen, bedarf es intensiver Planung, der Integration allenfalls vorhandener Infrastruktur, und erfahrener Partner. Nur dann kann es gelingen, die Zwangspause zu überbrücken und Langzeitschäden hintanzuhalten.

Planung ist alles

Längst gibt es eine Reihe von Dienstleistern, die sich auf die neuen Gegebenheiten eingestellt haben und vom virtuellen Messestand bis hin zur digitalen Kundenakquise Lösungen anbieten. Viele davon sind seit Jahren aktiv und können erfolgreiche Case Studys vorweisen. Dennoch passt längst nicht jede Veranstaltung zu jedem dieser Dienstleister. Manche von ihnen sind auf Kongresse oder Tagungen spezialisiert, andere wiederum auf Konzerte, Trainings, Modeschauen oder Messen. Die wichtigste Aufgabe besteht daher immer darin, in Selbstreflexion herauszufinden, welche Schlüsselelemente die Veranstaltung aufweist, was das Besondere an ihr ist, und was das Publikum von ihr erwartet. Daraus ergibt sich bereits ein rudimentäres Profil der Programmpunkte, die überhaupt für einen Sprung ins Internet in Frage kommen.

Diese kann man sodann auf ihre Eignung prüfen, durch die Digitalisierung womöglich sogar einen Mehrwert zu bieten. Schon heute binden große Messeveranstaltungen das Internet als interaktives Medium ein, um die Orientierung auf dem Gelände zu erleichtern oder mit dem gewünschten Gesprächspartner in Form eines Chats in Kontakt zu treten. Solche Strukturen sind dem Publikum bereits bekannt und ermöglichen durch kluge Integration, einen Déjà-Vu-Effekt zu erzeugen, der erfahrungsgemäß gerne gesehen wird. Auf diese Weise können zudem Kosten gespart werden, ein willkommener Nebeneffekt bei Hybrid-Events, die ohnehin schon höheren Aufwand bedeuten.

Synergien nutzen

Landläufig werden hybride oder virtuelle Veranstaltungen gerne mit einigen positiven Effekten in Verbindung gebracht. Einer davon ist die Unabhängigkeit von einem bestimmten Ort, was in einer Welt ohne Grenzen natürlich vorteilhaft scheint. Immer wieder genannt werden auch niedrigere Kosten, was allerdings stark von Veranstaltung zu Veranstaltung differiert und zudem auf Hybridformen längst nicht immer zutrifft. Zuguterletzt werden häufig ökologische Aspekte genannt, wenn es um Vorteile virtueller Lösungen geht. Schließlich werden Bewegungsströme minimiert, auch braucht man keine großen Gebäude und weitläufigen Flächen, die außerhalb der Veranstaltungszeit leerstehen und erhalten werden müssen.

Auf den ersten Blick also eine Win-Win-Situation. Genauere Analyse offenbart indes, dass auch virtuelle Lösungen in ökologischer Hinsicht keineswegs ohne Tadel sind. Abhängig von der Teilnehmerzahl werden nämlich enorme Rechen- und Übertragungskapazitäten aufgewandt, um ein flüssiges und realitätsnahes Erlebnis zu ermöglichen. Gut möglich also, dass unter dem Strich das Einsparpotenzial minimal ist. Auch sollte klar sein, dass wirkliche Nachhaltigkeit nur erzielt werden kann, wenn die gewonnenen Erkenntnisse, die sich im Rahmen einer virtuellen Veranstaltung einstellen, weiterhin genutzt werden. Für eine Wegwerflösung ist der Aufwand eines Hybrid-Events viel zu hoch, weshalb ein Digital Twin des virtuellen Teils gespeichert werden sollte. So lässt sich die Lösung für die Zukunft parat halten, auch wenn die Coronapandemie irgendwann zu Ende sein wird.

Messewelt im Umbruch

Welche Conclusio erwächst nun aus all diesen Erkenntnissen? Übereilte Entscheidungen sind fehl am Platze. Hybrid-Events mögen gerade im Trend liegen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass sie für jede Messe und jedes Event in Frage kommen. Eine Computerspielmesse wird sicherlich eher profitieren als eine Gartenbaumesse. Letzten Endes geht es bei einer Messe auch immer um reales Zusammentreffen und ein gesamtheitliches wie gemeinschaftliches Erlebnis, welches sich nur sehr eingeschränkt virtualisieren lässt. Dass diese Eigenschaft nicht unbeträchtlich ist, hat sich darin gezeigt, dass trotz aller Unkenrufe zu Beginn der Jahrtausends die meisten Messen klassischen Zuschnitts überlebt haben.

Vielleicht sind gerade Messen und Live-Events heute sogar wichtiger denn je, zumal sie eine Lücke zu füllen wissen, die durch die alltägliche Digitalisierung, sozialen Druck und Kosteneffizienz immer größer geworden ist. Noch sind die Würfel nicht gefallen, auch wenn allenthalben schon wieder das Ende traditioneller Messen ausgerufen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Trend sich im Abgleich mit der Realität als untauglich erweist. Schaden kann es trotzdem nicht, sich mit den neuen Lösungsansätzen zu befassen. Gut möglich, dass man sie letzten Endes doch braucht.

Immersives Erlebnis

Geht es um das Verschmelzen aus analoger und digitaler Welt, wird oftmals die Immersion, also das Eintauchen in ein virtuelles Geschehen, als Nonplusultra angesehen. Ein immersives Erlebnis zieht die Betrachter derart in seinen Bann, dass diese den Unterschied zwischen Realität und Fiktion nicht mehr bewusst wahrnehmen. Dieses Phänomen kann bei virtuellen Lösungen beobachtet werden, die den Betrachter mit allen Sinnen fesseln, wodurch er in Folge all seine Aufmerksamkeit nur noch dem virtuellen Erlebnis widmet. Derlei Formen der Interaktion kommen gerne in Computerspielen und Marketing zum Einsatz, aber auch in der Musik und generell der Kunst. Immersion ist durchaus in der Lage, einer virtuellen Darbietung unwiderstehlichen Reiz zu verleihen und dient sich daher als Mehrwertgenerator an.

Foto: gpj-events

Share This